Wohnen auf 20m² – easy tiny, nicht?

Leben auf kleinem Wohnraum. Das sogenannte Tiny House Movement mit Ursprung in den USA ist längstens auch in der Schweiz angekommen. Immer mehr Leute ziehen aus ihren Wohnungen oder Häusern aus und reduzieren ihre Wohnfläche massiv. Keine schlechte Bewegung, wenn man bedenkt, dass uns mit der herkömmlichen Wohnform irgendwann der Wohnraum ausgeht, nicht wahr?

Der Ursprung der Tiny Häuser steckt in der Reduktion von Kosten, während heute das nachhaltige Wohnen vermehrt in den Vordergrund rückt.

Kevin Rechsteiner wohnt seit vier Jahren in einem Tiny House. Der selbständige Webdesigner, Fotograf und Paar- und Familienberater hat sich dieses aus einem Zirkuswagen auf eigene Faust umgebaut. Wir haben Kevin getroffen (natürlich virtuell #socialdistance) und haben mit ihm über Nachhaltigkeit, Minimalismus und vieles mehr geplaudert. 

Du willst die volle Ladung? Unterhalb des Videos findest du das vollständige Interview zum Nachlesen.

Woher kam deine Entscheidung, in einem Tiny House zu wohnen?

Kevin Rechsteiner: Als ich nach einer zweieinhalb monatigen USA-Reise mit dem VW-Bus in meine 180m2-Loftwohnung zurückgekommen bin, habe ich gemerkt, dass viele Sachen in dieser Wohnung für mich gar keine Wichtigkeit mehr haben. Diese begann ich wegzugeben und die Wohnung wurde leerer und leerer. Ich wollte in eine kleinere Wohnung ziehen, was von der Miete aber gleich viel gewesen wäre. Und dann kam mir die Idee eines Tiny Houses. Ich habe vom Zirkus einen Zirkuswagen angeboten bekommen. Spontan habe ich den gekauft, die Wohnung gekündigt und begonnen, den Wagen umzubauen.

Hat es dich Überwindung gekostet oder war es eine leichte Entscheidung?

In diesem Moment ging es nur noch darum, Fläche zu reduzieren. Ich musste nichts mehr weggeben, das eine Bedeutung gehabt hätte. Und da meine Frau in Norwegen war – wir haben keine Kinder, keinen Hund – hatte ich nur mir gegenüber eine Verantwortung. Also habe ich es einfach gemacht.

Du hast ja ganz viele Dinge weggegeben. Was hast du mit denen gemacht?

Als Erstes löste ich meine CD-Sammlung auf und verkaufte meine Bücher. Bald waren meine Möbel leer – die habe ich ins Brocki gebracht oder verschenkt. Wenn Gäste meinten: «Das ist ein mega cooler Lederstuhl», antwortete ich: «Du kannst ihn mitnehmen». Ganz am Ende hatten wir die Nerven nicht mehr, um den Rest zu sortieren und fuhren ein einziges Mal in die Verbrennung.

Wie hat sich die Situation finanziell verändert?

Ich arbeite gerne und viel, bin selbstständig und habe eine eigene Firma. Für mich war die Motivation nie, weniger arbeiten zu können oder mehr Freizeit zu haben. Aber trotzdem ist jetzt viel mehr Geld vorhanden. Meine Überlegung damals war folgende: Ich gebe mir drei Jahre Zeit, den Wagen umzubauen. Alles, was ich während dieser Zeit an Miete spare, investiere ich in den Wagen. Nach drei Jahren kann ich sagen «es war cool» oder «es war ein S***». Dann kann ich den Wagen weggeben und bin auf null.

Seit du im Tiny House wohnst – musst du öfters auf etwas verzichten?

Ein Verzicht ist es nicht. Es sind drei Dinge, die mir hier fehlen, aber mir kommen gerade nur zwei in den Sinn. Ich habe keine Badewanne und keinen Geschirrspüler. Eine Badewanne hatte ich auch in meiner alten Wohnung nicht, darum ist es egal. Einen Geschirrspüler brauche ich wirklich nicht. Es gibt selten Situationen, wenn ich zum Beispiel krank bin, dann wäre ein Bad wohltuend. Wohnraum und Wohnfläche haben für mich keine Bedeutung mehr. Ich brauche auch kein Fernsehzimmer oder ein Fumoir. Darum ich verzichte auf nichts. 

Würdest du dich selber denn als Minimalist bezeichnen?

Ich bin kein Minimalist – also ich finde, ich gehöre nicht in diese Kategorie. Ich habe wenige Sachen, aber das ist nicht Minimalismus als Lebensbild. Wenn mir etwas wichtig ist, kaufe ich das. Ich habe eine Idee, wie die Welt und das Leben funktionieren sollen, und in dieser Idee gehört eine solche Wohnform dazu. Ich bezeichne das nicht als Minimalismus, sondern, ich brauche jetzt einfach eine kleinere Wohnung.

Hast du durch das Leben im Tiny House mehr Zeit für deine Hobbies und Interessen?

Ich glaube nicht. Oder vielleicht schlussendlich schon. Ich habe mein Leben immer mit Projekten und Ideen gefüllt. Ich arbeite sehr gerne und ich arbeite sehr viel, das ist mir wichtig. Es war aber nie meine Motivation, ein Tiny House zu haben, damit ich mehr Zeit habe.

Für viele Personen ist die Nachhaltigkeit ein Grund, in ein Tiny House zu ziehen. Ist das für dich auch ein Thema oder spielt das keine Rolle?

Am Anfang gar nicht. Der Fokus lag klar auf dem Umbau. Durch den Umbau und die Recherche beschäftigte ich mich mehr mit Themen wie zum Beispiel einer Solaranlage. Eine Solaranlage macht für einen Raum, der so wenig Strom braucht, absolut Sinn. Mit der Zeit sind viele Themen aufgekommen. Der Plastikverbrauch, Abfall oder allgemein, wie man Dinge anders nutzen kann. Es war ein Prozess während des Umbaus und hat jetzt einen höheren Stellenwert in meinem Leben, als zuvor. 

Kommt ein nachhaltiges Verhalten erst durch das Leben im Tiny House oder zieht man um, weil man nachhaltiger leben möchte?

Es gibt Leute, die sagen, sie möchten ihren Fussabdruck verkleinern und ein Tiny House ist in diesem Moment eine sehr gute Lösung. Da kann jeder machen, was er für richtig und nachhaltig empfindet. Der Strom- und Wasserverbrauch kann reduziert werden, was man in einer Wohnung nur beschränkt kann. 

Würdest du die Aussage unterstützen, dass nachhaltig Leben keine grosse Anstrengung sein muss?

Man muss Nachhaltigkeit als Wort definieren. Es ist ein relativ übergreifendes Thema. Aber ab dem Moment, in dem man ein Bewusstsein für diese Sachen bekommt, ist es keine Anstrengung mehr, sondern es ist eine Motivation, darauf zu schauen. Wenn ich mir Kleidung kaufe und es steht aus nachhaltiger Produktion darauf. Was heisst das genau? Ist eine nachhaltige Produktion etwas, bei der sich jemand Gedanken zu den einzelnen Schritten macht oder einfach ein Slogan, der sich gut verkauft? Man beginnt, ein Interesse dafür zu entwickeln und die Zusammenhänge und Labels, die dahinterstehen, zu verstehen. Nachhaltigkeit ist für mich nicht anstrengend geworden, sondern ein Teil meines Lebens.

Ich sage mir aber auch bei gewissen Sachen «ich leb dann damit». Ich reise und fliege katastrophal viel. Das ist nicht nachhaltig und das weiss ich und ich habe auch kein Argument, warum ich das darf. Aber es ist mir wichtig. Ich glaube, so sollte man an die Nachhaltigkeit herangehen. Ich kann gewisse Dinge, die ich mache, nicht rechtfertigen und vielleicht ist es nicht ganz richtig, aber ich bin mir dem bewusst, was ich mache.

Ist ein Tiny House nachhaltig?

Eigentlich nicht. Es ist eben nicht nachhaltig. Das ist aktuell eine grosse Diskussion, bei welcher ich eine spezielle Meinung vertrete: Wenn man ein Tiny House konsequent durchdenkt, ist es nicht ganz nachhaltig. 

Welche Bereiche des Tiny House sind denn nicht nachhaltig? 

Die Vorstellung von Tiny House Besitzern ist oft: «Ich habe mein Tiny House, 20m2 – cool.» Dann hätten sie aber auch gerne einen Garten drumherum, so 100 bis 150m2, denn sie möchten ja nicht leben wie in einem amerikanischen Trailerpark. 

Ich habe 1000m2 Land. Darauf stelle ich zehn Tiny Houses für vielleicht 20 Personen. Das macht keinen Sinn. Das ist nicht nachhaltig. Für Einzelpersonen wie mich, die einen Platz auf einem Bauernhof finden, mag das aufgehen. Aber für eine grössere Menge «verhebt» es nicht. Auf 1000m2 kann ich definitiv etwas Besseres bauen als zehn Tiny Houses.

Was wäre denn deine Vorstellung einer optimalen Nutzung?

Von 1000m2? Darauf baut man eine richtig coole Überbauung. Nicht etwas, das es schon gibt – es müssten neue Konzepte sein, bei welchen die Räume aufteilbar sind und mit den Familien mitwachsen. Man müsste Wohnkonzepte neu überdenken und sich fragen, wie man eine solche Fläche wirklich sinnvoll und nachhaltig nutzen kann. Und da gibt es bessere Konzepte als Tiny Houses. 

Also ist ein Tiny House an sich nicht nachhaltig, aber es fördert das Bewusstsein für Nachhaltigkeit? 

Das ist definitiv so. Ich kann ein Tiny House einfacher in eine Autarkie bringen. Ich kann meinen eigenen Strom generieren und mein eigenes Wasser haben. Ich habe einen gewissen Spielraum, um etwas auszuprobieren, was ich bei einem normalen Gebäude nicht kann. Das ist auch ein Prozess, der momentan stattfindet. Man versucht Lösungen zu finden für kleine Räume für 1-2 Personen. Diese kann man zukünftig skalieren. Man bringt auf kleiner Fläche in Erfahrung, wie viel Strom ein Haushalt braucht und kann es für grössere Überbauungen umrechnen.

Wie ist es in der Community – besteht da der Drang, nachhaltig zu sein?

Bei den meisten ist Nachhaltigkeit ein grosses Thema. Man probiert neue Konzepte aus. Wie ist es, wenn ich mit Gas, Strom oder Holz heize? – man überlegt sich, welches der sinnvollste Weg ist. Es ist ein hoher Wunsch, sinnvoll und nachhaltig leben zu wollen. Das hat wahrscheinlich auch damit zu tun, dass man die Ressourcen gut einteilen muss. Gerade im Winter ist das Heizen ein Problem. Es beginnt schon bei Basis-Sachen wie dem Isolationsmaterial: Steinwolle hat einen guten Isolationswert, ist aber in der Produktion Irrsinn, denn es braucht viel Energie bei der Produktion. Viele setzen es deshalb nicht ein, und nehmen ein Material, das etwas nachhaltiger produziert ist. 

Welche Tipps hast du für jemanden, der downsizen möchte und nicht weiss, wo er beginnen soll?

Das ist eine gute Frage. Ich glaube, was am besten funktioniert, ist, durch die Wohnung zu gehen und einfach irgendwo anzufangen. Bei der Kleidung, Büchern, CDs oder Souvenirs – also Dinge, die herumstehen. Irgendwo beginnen und sich ganz bewusst überlegen: Hat diese Ding noch eine Bedeutung für mich und welche? Und dann Sachen, die keine Bedeutung mehr haben, weggeben. Beginne irgendwo und gib drei Dinge weg – finde für diese drei Dinge einen guten Ort. Das fühlt sich gut an. Darauf kann man aufbauen.

Also nach dem Motto «start small, but start».

Ja, unbedingt. Wobei auch hier, vielleicht ist es eine Strömung, die jetzt stattfindet. Man muss das jetzt machen, weil man muss. Vielleicht haben viele Dinge eine Bedeutung für einen oder man fühlt sich einfach wohl um diese Dinge herum. Das muss jeder für sich herausfinden.

Würdest du sagen, weniger zu besitzen, macht glücklicher?

Mich schon. Aber ich merke auch im Tiny House, gibt es Orte und Schubladen, in denen nach zwei Monaten wieder Sachen drin sind, die einfach da reingekommen sind und niemand weiss, warum. Ich muss auch alle zwei Monate alles durchgehen und Dinge aussortieren, die ich gekauft habe, weil ich das Gefühl hatte, dass ich sie brauchte und dann merke ich, dass ich sie eigentlich nicht brauche. Es passiert auch mir. 

Weitere Infos

Für mehr Infos zu Kevin Rechsteiner und seinem Lifestyle schaut doch auf seinem Blog vorbei.

Mehr zu Tiny Häusern allgemein findet ihr auf Kleinwohnformen.

Von Tamara Reichle und Flavia Bernold