Lasst uns unsere Rolle selbst definieren!

Nur 2% der Bergführerinnen der Schweiz sind Frauen – Rita Christen ist eine von ihnen und seit 2020 Präsidentin des Bergführerverbands. Warum sie die Klischees über Frauen in einer Männerdomäne brechen möchte und welche politische Dimension der Bergsport für sie hat, erzählt Rita bei ihr Zuhause in Disentis in Graubünden.

Wann warst du das letzte Mal am Berg und wie ging es dir dabei? 

Ich war mit meinem Mann und meinem Sohn am Furkapass klettern. Das war Ende November, eigentlich schon spät für diese Höhenlage, aber es war ein sonniger, warmer Tag. Wir haben zwei Sportkletterrouten gemacht, eine an Hannibal Pfeiler und eine am Kleinen Kamel. Es war schon so eine Ruhe in den Bergen, weil es so spät im Jahr war. Die Farben, das Sonnenlicht, der kurze Tag, es war ein Geschenk. 

Immer wieder kriegst du Fragen zur Rolle der Frau am Berg gestellt. Bist du es langsam leid?

Teils, teils. Ich empfinde es wirklich auch als gute Gelegenheit, meine Erlebnisse zu schildern, weil ich finde, meine sind positiv in dem Sinne, dass sie so gut waren. Ich möchte dieses Klischee von der Männerdomäne brechen. Bei mir persönlich war wirklich das Gegenteil der Fall, in der Ausbildung, in der Berufstätigkeit und auch jetzt in meiner Rolle als Präsidentin des Berufsverbands. Ich erlebe eine Situation des Rückenwinds, fühle mich geschätzt und gefördert. Man könnte meinen, es sei ein sehr harter Weg, aber so habe ich ihn nicht empfunden. Aber das ist vielleicht auch nicht geschlechtsabhängig, sondern eine Frage meines Charakters.

Denkst du, wir sprechen zu viel über Geschlechter und zu wenig über Charaktereigenschaften? 

Ja, ich denke Klischees beengen. Eine ideale Welt für mich wäre eine, wo jeder und jede einfach seine individuellen Eigenschaften ausleben kann, so dass es allen dient und keine Zwänge schafft, indem man Bilder in den Köpfen der Menschen pflegt: Was ein richtiger Mann, eine richtige Frau ist und welche Stärken und Schwächen diese haben sollten.

Also wärst du dafür, Geschlechter abzuschaffen? Überspitzt formuliert?

Biologisch gibt es ganz offensichtlich zwei Geschlechter. Ich fände es aber schön, wenn Geschlechter kaum Bedeutung hätten in Beziehungen. Ich fühle mich wohl, wenn ich als Rita, als Mensch angesprochen werde und die Tatsache, dass ich eine Frau bin, total nebensächlich ist. Ich habe immer wieder erlebt, dass dies gut funktioniert, wenn ich selber mit dieser Einstellung an eine Sache herangehe. Wir als Frauen sollten selber die Zügel in die Hand nehmen und das Frausein selber definieren, anstatt Perspektiven zu suchen, in denen wir uns als nicht geschätzt sehen. 

Was beobachtest du für Unterschiede, wenn du z.B. beim Klettern eine reine Frauen-Seilschaft siehst oder eine gemischte Seilschaft?

Ich freue mich über Frauen, die Führungsrollen übernehmen. Bei gemischten Seilschaften, wenn die Frau dann in der ganz klar geführten Rolle ist, denke ich, sie sollte es auch probieren. Aber wenn gemischte Seilschaften partnerschaftlich funktionieren, dann finde ich das natürlich auch schön. Ich erlebe das selbst mit meinem Mann: Das Bergsteigen verbindet uns seit über 30 Jahren in unserer Beziehung und das haben wir immer gut hingekriegt, mit unseren Stärken und Schwächen ganz locker und ehrlich umzugehen. Damals war es noch ganz anders, in den Bergen unterwegs zu sein, wenn eine Frau vorstieg. Da haben wir als Seilschaft erstaunte Blicke und Kommentare geerntet. Mein Mann fand das immer cool und ich fand es ganz stark an ihm, dass er so selbstverständlich mit dieser Situation umgehen konnte. Er hat mich immer als gleichwertige Partnerin gesehen und wir haben uns in der Führungsrolle abgewechselt, je nachdem, welche Fähigkeiten gefordert waren. Ich hätte mich mit niemandem zusammengetan, der das nicht erlaubt hätte. Aber ich habe auch gelernt, dass es durchaus Personen gibt, Männer oder Frauen, die diese Rolle der Führung gar nicht suchen. 

2021 sind nach Unfallstatistik des Schweizer Alpen Clubs 131 Menschen tödlich verunglückt, davon nur 22 Frauen. Was denkst du über das unterschiedliche Risikoverhalten von Männern und Frauen? Wie ist die Selbsteinschätzung? 

Nach meiner Beobachtung ist es tatsächlich so, dass vor allem junge Männer eindeutig eine größere Bereitschaft haben, Herausforderungen anzunehmen und Risiken einzugehen. Ganz eindeutig unterschätzen sich Frauen eher. Ich finde es interessant zu überlegen: Ist das wirklich geschlechtsabhängig oder ist das sozial bedingt?

Was rätst du Frauen, die Bergführerinnen werden wollen, besonders in schwierigen Phasen? 

Ich rate dazu, möglichst selbstbewusst und locker zu sein. Was ich immer mal wieder erlebt habe, dass sich junge Frauen an mich oder an Kolleginnen gewendet haben und erzählt haben, was vorgefallen ist und sie verunsichert hat. Die Frage, was meinst du, soll ich das auf mich nehmen, diesen Widerstand zu überwinden oder nicht? Ich würde sagen, man muss bereit sein, viel zu trainieren und dann für diese Kurse parat zu sein. Dass in Kursen mehr als eine Frau dabei ist, ist eine Ausnahme, selbst bei uns in der Schweiz. Wir sind ja das Land mit der höchsten Anzahl von weiblichen Bergführerinnen. 

Meinst du, wir brauchen mehr Bergführerinnen?

Ich freue mich natürlich über jede junge Frau, die diesen anspruchsvollen Beruf wählt. Aber ich finde die aktuelle Situation ok. Wenn der Zugang zu einer Tätigkeit offen ist, wenn die Behandlung in der Ausbildung fair und gerecht ist und das weiß ich, dass es so ist, dann reicht das. Wir machen jetzt beim Verband auch keine aktive Förderung, weil ich finde, das könnte kontraproduktiv sein. Anzufangen, die Anforderungen bei den Frauen herunterzusetzen, was diskutiert wird, fände ich falsch. 

Aber die normalen Anforderungen trauen sich trotzdem weniger Frauen zu?

Ich beobachte einfach, dass immer noch deutlich weniger Frauen in den eher risikoreichen Disziplinen unterwegs sind. Eisklettern, klassisches Bergsteigen – und damit ist einfach der Pool an Personen, die das Niveau haben, klein. Von denen, die das machen, glaube ich jetzt nicht, dass die Frauen dann noch durch Selbstzweifel blockiert werden. Ich denke, wenn eine junge Frau wirklich das ganze Spektrum der Disziplinen macht, die es für die Bergführerausbildung braucht, dann hat sie auch den Mut, Bergführerin zu werden.

Du bist dafür, die Stärke der Frau so für sich stehen zu lassen. Aber gerade bei jungen Frauen ist es häufig ein langer Weg und die Stärke muss sich erst noch entwickeln.

Ich merke immer wieder, dass es ein harter Zug an mir persönlich ist, dass ich immer finde, es ist doch keine grosse Sache, stark zu sein. Ich weiß nicht, weshalb. Ich musste nie darum ringen und das projiziere ich dann. Dann habe ich sehr wenig Verständnis für Frauen, die sich schwertun. Das ist ungerecht, das merke ich, wenn ich es analysiere. Aber das Gefühl, man müsse nur einen mutigen Schritt machen und dann läuft es problemlos von alleine, ist ganz tief in mir drin. Zudem finde ich, wenn du nachher Gäste auf anspruchsvollen Touren in den Bergen führen willst, dann darfst du dich nicht selbst blockieren. Also eine Frau, die man noch irgendwie groß fördern muss, dass sie als Frau diesen Schritt wagt, die sehe ich dann auch nicht unbedingt als kompetente Führerin.

Diesen Sommer hat der Hauptverband die JDAV das erste Mal ein Klettercamp für Frauen veranstaltet. Was hältst du von exklusiven Veranstaltungen, oder auch Kursen und Fortbildungen nur für Frauen? 

Ich finde es schade, dass es das braucht. Aber ich habe über all die Jahre beobachtet, dass es hilfreich ist. Die Frauen, die sich anmelden, entfalten sich in den Kursen besser als in gemischten Kursen. Sie trauen sich mehr zu und kommen eher auch mal aus der Reserve. Deshalb sollte man exklusive Angebote machen, mit dem Ziel, dass sie irgendwann nicht mehr nötig sind. In der Soziologie ist es klar erwiesen, dass gemischte Teams am besten funktionieren und dass sich einheitliche Teams in negativen Zügen verstärken können. 

Hattest du in deiner Kindheit das Gefühl, alle Möglichkeiten gehabt zu haben?

Ich fühlte mich sehr unterstützt darin zu wählen, was ich will und das dann zu machen. Vor allem mein Vater hat das Gefühl vermittelt, mit genügend Einsatz und Willen kriegt man alles hin. Man muss sich entscheiden und dann Gas geben und dann geht es. 

Inwiefern denkst du, kann Bergsport auch politisch sein?

Schon in dem Sinn, dass es Frauen ermächtigt, selbst Verantwortung zu übernehmen für sich in der Gesellschaft. Ich kenne iranische Bergsteigerinnen, die erstaunlicherweise ihre Nischen schaffen können. Die können da Führen. Ich finde es wichtig, dass in einer Gesellschaft, in der das Frauenbild so traditionell auf Familie und Haushalt reduziert ist, eine Bergsteigerin in Erscheinung tritt. Das motiviert, diese Fessel zu brechen. Bergsteigen hat eine große Symbolkraft, von dem her kann es politisch oder in einem feministischen Kontext Wirkung entfalten.

Aber wie können Frauen am Berg ihren eigenen Weg gehen, ohne Männer zu “kopieren” in Stärke und Ausdauer? Wo ist am Berg auch Raum für weiblich gelesene Eigenschaften?

Es tangiert diese schwierige Frage: Was ist dieser weibliche Alpinismus? Gibt es den überhaupt? Meiner Meinung nach sollte es ganz einfach darum gehen, genau die Art des Bergsteigens zu betreiben, die einem selbst am besten gefällt und entspricht, unabhängig von den Erwartungen und Zwängen aus der Szene. Für mich persönlich geht es in die Richtung, in der es einfach Spaß macht und nicht verkrampft darum geht, ein immer schwierigeres Ziel in immer kürzerer Zeit zu erreichen. Das intensive Genießen des Weges steht im Vordergrund, die individuell passende Herausforderung. 

Die Rolle der Frau hat sich in allen Lebensbereichen in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Denkst du, dass es die Männer sind, die sich neu definieren müssen in Glaubenssätzen und Identität? Wie können Frauen Männer dabei auch unterstützen? 

Ich denke, das ist nötig und das ist ein Prozess, der im Gange ist. Die modernen Männer sind schon weit gekommen. Frauen sollten das unbedingt unterstützen, indem sie Raum lassen für Natürlichkeit. Wenn solche Debatten ideologisch werden, dann dient es niemandem. Der richtige Weg geht über die eigene Stärke, wo keine Abgrenzungskämpfe nötig sind, dass man die Männer mit einem großzügigen Blick begleitet auf diesem Weg. Ein pragmatischer, liebevoller, unkomplizierter Umgang auf der Sachebene und keine komplizierten Diskurse darüber wären hilfreich. 

Du bist 1993 für einige Monate ausgestiegen und hast in einer Hippie-Kommune gelebt. Was findest du von deiner Leidenschaft im Bezug auf das Bergsteigen heutzutage noch wieder? Ist es für dich mittlerweile ein kommerzialisierter Massensport geworden? 

Die Hippie-Kultur hat mich immer angezogen. Bei dem Projekt handelte es sich nicht um eine Hippie-Kommune, sondern ein Projekt, bei dem es darum ging, nach der Art der Cherokee in einem Zeltdorf im Wald in Vermont zu leben. Ich habe dies im Rahmen eines Dissertationsprojektes in Rechtsphilosophie gemacht. Deine Frage macht mich schon nostalgisch, die Kultur, wie sie eben in den Frühzeiten des Sportkletterns war, die liegt mir als Person deutlich näher als die Leistungssport-Stimmung, wie sie aktuell herrscht. Dabei finde ich aber: Es ist schön, dass Klettern und Bergsteigen zum Massensport geworden. An mir selbst habe ich gemerkt, wie wohltuend Klettern ist. Ich finde, es tut unserer Gesellschaft gut, wenn viele Leute in die Berge gehen. Von dem her hat es auch was Gutes, dass es nicht mehr elitär ist.

Du hast dich gemeinsam mit deinem Mann dazu entschieden, die Bergführerausbildung zu machen. Hattest du manchmal Sorge, gerade mit Kindern, dass das Risiko, dass etwas passiert, zu groß ist? 

Über das Risiko beim Führen hatte ich nie Sorgen. Ich trage schwer an der Verantwortung für meine Gäste und bin beim Führen entsprechend defensiv unterwegs. Anders sieht aus aus beim persönlichen Bergsteigen, da nehme ich locker deutlich mehr Risiko in Kauf. Für meinen Mann und mich habe ich gefunden: Wir haben uns entschieden für diese Aktivität, wir lieben es und das Risiko nehmen wir in Kauf. Kinder zu kriegen hat für mein persönliches Bergsteigen und Freeriden keinen Unterschied gemacht. Bei den meisten ist es ja anders. Da ändert sich das Verhalten durch das Mutterwerden. Ängste, dass mein Mann umkommen könnte und ich allein gewesen wäre, hatte ich nicht. Ich habe immer das Gefühl gehabt, ich könnte es auch alleine schaffen.

Zu gross war mir das Risiko nur in der Zeit, als die Kinder klein waren, und wenn es darum ging, aussergewöhnlich risikoreiche Sachen zusammen mit meinem Mann zu machen. Da ist dann bei mir wie ein Schalter umgeklappt: Das wollte ich nicht.

Wie regenerierst du dich in stressigen Phasen?

Ich würde sagen, im Großen und Ganzen ist es mir wirklich gut gelungen, mir immer Freiraum zu halten und eben nicht in diese Erschöpfung zu kommen. Ich habe zwar den Drang, mich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen, bin aber auch ziemlich bequem. Habe ich trotzdem mal Stress, so ist das Wirkungsvollste für mich, Klettern oder Freeriden zu gehen. Klettern hat einen meditativen Aspekt und erfordert viel Konzentration. Reicht die Zeit nicht, mache ich kurz Yoga.

Wann hat dich ein Mensch am Berg das letzte Mal richtig beeindruckt? 

Eine meiner Heldinnen ist Nicole Niquille. Ich erinnere mich gut; ich hatte gerade Matura gemacht, als 1986 in der Zeitung stand: Erste Bergführerin der Schweiz. Ein paar Jahre später erlitt Nicole bei einem tragischen Unfall beim Pilze sammeln eine Hirnverletzung und seither ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen. Diesen Sommer haben wir sie auf einem speziellen Schlitten auf das Breithorn gebracht. Es hat mich tief beeindruckt, wie Nicole sich vertrauensvoll auf dieses Abenteuer eingelassen hat und wie sehr sie sich über die Tour gefreut hat. Es war wie ein emotionaler Rausch, irgendwie einmalig. Am ganzen Berg hat sich die positive Energie verbreitet. Wir waren am Gipfel, haben gelacht und geweint.

Digezz-Projekt von Solveig Eichner